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Friedrich W. Kantzenbach
Wüsst ich Dinge leicht wie Luft

Dieses Gedichtsbändchen ist liebevoll gestaltet und mit Fotos versehen. Es wendet sich an Leser, die bereit sind, aufmerksam hinzuhören und sich einzulassen auf die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Schicksal.

Floß im Blick

Floß im Blick

Dr. Konrad Lindner

Mit Jacob Böhme in die Ostrale 17

„So man aber will von Gott reden, was Gott sei, so muss man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur.“ (Jacob Böhme)

0. Luther-Jahr 2017

Es gibt gerade auf der Spur der Kunst glückliche Ereignisse, die über den Tag hinaus wirken. Von einem Kunsterlebnis, das mich dazu herausforderte, es skizzenhaft zu beschreiben, möchte ich berichten. Am 26. September 2017 fuhr ich mit meiner Frau nach Dresden. Erst besichtigten wir ein Kunstwerk des Bildhauers Matthias Jackisch in der Ostrale 17, die am 01. Oktober 2017 ihre Pforten geschlossen hat. Danach besuchten wir gemeinsam mit dem befreundeten Bildhauer einen Vortrag von Professor Bruno Haas in den Staatlichen Kunstsammlungen zu Dresden über die Philosophie und Kunst der Spätrenaissance. Beide Erlebnisse vermischten sich bei mir durch das Jubiläumsjahr der Reformation zu dem Impuls, die je unterschiedlichen Begegnungen in Beziehung zu setzen. Das soll hier in einer etwas allgemeineren Form der Darstellung geschehen, die sich um einen originellen Denker aus Sachsen dreht.

Bildhauer Matthias Jackisch (rechts) präsentiert auf der Ostrale 2017 sein "Floß"
Bildhauer Matthias Jackisch (rechts) präsentiert auf der Ostrale 2017 sein "Floß"

1. Staub- und Erdenmenschen

Der Vortrag des Philosophen und Kunsthistorikers Haas hatte die Geisteswelt von Jacob Böhme (1575 – 1624) zum Gegenstand. Mit ihm eröffnete Haas eine Ausstellung zu dem Thema „Die Naturmystik in der Kunst der Spätrenaissance. Böhme im Kontext“, die im Georgenbau (bis zum 4. Dezember 2017) gezeigt wird. Eine Erweiterung der bereits laufenden Böhme-Ausstellung „Alles in Allem“, die sich (bis zum 19. November 2017) in der Schlosskapelle befindet. Während Haas seine Zuhörer zu Beginn des Vortrages erst einmal in das „Königreich Lucifers“ und das heißt in ein Kapitel des Frühwerkes des Autodidakten und dennoch fulminanten Denkers in Görlitz entführte, zeigte uns Jackisch auf dem Gelände eines ehemaligen Schlachthofes im Rahmen der Ostrale 17 eine gewichtige Präsentation der Gegenwartskunst. Hier begaben wir uns aber nur in Halle 16, um uns ausschließlich auf sein Werk "Floß" zu konzentrieren. Nur eines der insgesamt 1.118 ausgestellten Werke. Die sinnliche Konfrontation mit der Figurengruppe im Kraftfeld der irdischen Gewalten löste bei mir einen Schock aus, über den ich in diesem Rahmen einfach zu erzählen versuche. Mir stand keine Einzelskulptur, keine alleinige Säule, sondern im Gegenteil eine große Gruppe in einer Weise gegenüber, die mich aus dem Gleichgewicht dessen warf, was ich bislang unter Skulptur verstanden hatte. Die wie aus Geäst und Lehm gewirkt scheinende Arbeit von Jackisch hat eine ungeheure Kraft, die betroffen macht. So etwas habe ich noch nicht gesehen. Ich stand wie elektrisiert vor dem plastischen Gebilde mit dem leicht wellenförmigen Unterbau aus Holz. Viele Menschen, aber auch Katze, Hund und Fische auf einem Floß. Auch war ich mir nicht sicher, ob diese zu einer Gruppe vereinten Wesen leben oder ob sie tot sind. Sie wirkten wie gerade aufgetaucht aus dem Wasser. So dachte ich zumindest für einen Moment. Dieses Schwanken der Perspektiven beunruhigte mich. Denn: Erst sah ich die dichte Menschenszenerie als tot und dann wieder als lebendig an. Mir war überhaupt nicht klar, was der Kopf mit einem macht, wenn ich erst wie abgestoßen und dann aber doch wieder wie angezogen davor stand. Mit Macht drängte sich die Einsicht auf: Ein derart aufrührendes Erleben kann wahrscheinlich keine Fotografie bewirken, die durch ihre Zweidimensionalität sehr weit von der Räumlichkeit unseres Lebens entfernt ist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte demnach gute Gründe, wenn er in seiner Ästhetik erst die Skulptur mit ihren plastischen Rundumbildern und dann die zweidimensionale Malerei behandelte. Und in der Tat, das Erlebnis des figürlichen Sehens mit Blick auf das Floß erzeugt Affekte, die kaum zu beschreiben sind. Es steht ein Werk da, in das mit Martin Heidegger und seinem Essay „Der Ursprung des Kunstwerkes“ (1935) gesprochen, die Erde durch das Medium des Wassers und des Schlamms hineinragt oder gar hindurch ragt. Verborgenes entbirgt sich beim Hinschauen und dann verbirgt es ich wieder, weil der Blick weiter wandert. Vielerlei Deutungen beginnen zu sprudeln: Wird hier die Abkunft des Menschen aus dem Wasser besprochen? Wird hier von den zahllosen Flüchtlingen erzählt, die im Mittelmeer ertrunken sind und weiter ertrinken? Dann der wieder andere Affekt mit der Frage: Sehe ich hier vielleicht in der Ostrale aus meiner eigenen Familiengeschichte die Ahnen auf einem Floß wie in einem fernen Land versammelt, zu denen ich mich nach dem Lebensende dazugeselle? Ich habe noch kein Kunstwerk gesehen, in dem es so authentisch und unausweichlich um Leben und Tod und damit um die Grundfrage unseres Daseins geht, wie in diesem plastischen Werk von Jackisch, das er als fast 60-jähriger Künstler und das heißt als reifer Bildhauer mitten in das von Pegida-Protest und AFD-Euphorie erschütterte Dresden rein gestellt hat. Als Betrachter konnte ich mich nicht nur für die eine Deutung entscheiden, als ich die schweigende Gruppe sah. War hin- und hergerissen. Wurde fast zerrissen. Hier ist jemand auf dem Floß aus doch recht dünnen Stämmen, der oder die richtig in die Höhe ragt. Mehre Personen kauern leicht in sich gesunken auf dem Boden. Komisch. Da schaute ich zu den Sitzenden. Plötzlich meinte ich einen der Schweigenden laut nachdenken zu hören. Einige Menschenwesen aus Geäst und Gips lagen da wie hingeworfen. Stöhnen sie etwa? Schreien sie gar? Oder schlafen sie nur? Verdammt, hier scheint's mit dem Teufel zuzugehen. Ich geriet in eine Stimmung, bei der ich mich nur abschotten wollte, wie es die Europäische Union in ihrem bisherigen Streben nach einer hermetischen Einmauerung vormacht. „Wer nicht ersäuft, wird eingesperrt“, konnte ich schon lange über die bisherige Vorgehensweise der Europäische Union an einigen Häuserwänden in Leipzig lesen. Auf Sizilien zum Beispiel ist eine derartige Rede nicht an den Haaren herbeigezogen. Die italienischen Behörden sind völlig überfordert. Ich konnte vor dem Floß von Jackisch nicht entscheiden, was ich gerade sehen wollte. Es muss nicht um Flüchtlinge und politisches Versagen gehen. Aber weiß man's? Die Begegnung beunruhigt, weil ich nicht weiß, was ich mir zutrauen kann. Scheußlich, wenn ich in nackter Hässlichkeit vor mir selber da stehe. Also war da der Affekt: Laufe ich der Skulpturengruppe doch besser davon. Dann wieder die beruhigende Einsicht: Gut, ich finde nicht den einen festen Punkt, aber ich nehme eine in einem gemeinsamen Schicksal unzertrennlich vereinte Menschengruppe wahr und dennoch erahne ich deutlich, dass ein jedes Schicksal höchst individuell vom Bildhauer angedeutet worden ist.

2. Schuld ist Mangel an Liebe

Es war im September 2017 so, dass meine Frau das „Floß“ unbedingt sehen wollte, über das der Bildhauer während der Arbeit im Frühjahr brieflich berichtet hatte. Deshalb ging's am 26. September erst in die Ostrale und dann zu dritt in den Vortrag von Professor Haas über Jacob Böhme. Eine erregende Hinführung zu dem Görlitzer, der nicht nur über Gott, sondern auch über den Teufel nachdachte, um mit Letzterem heftig zu streiten. Nicht alles hinnehmen, sondern seinen Widerspruch gegen das Böse aus sich herausschreiben, das war die Denkhaltung von Böhme. Wird er als einer der großen Naturmystiker bezeichnet, dann deshalb, weil er Gott aus den Buchstaben der Bibel heraus, aber zugleich und vor allem in den Kräften der Natur zu suchen und zu entdecken begann. Böhme war gedanklich in den mannigfachen Erscheinungs- und Geburtsformen draußen vor unseren Augen unterwegs, aber insbesondere auch im eigenen menschlichen Leib. Ein geistiges Streben, das später Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seinen Leipziger „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797) im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution und noch später Carl Friedrich von Weizsäcker nach dem Großen Krieg in seiner Göttinger Vorlesung über „Die Geschichte der Natur“ (1946) beibehielten. Beide waren sie wie Böhme streitbare Protestanten und für die Kräfte der Natur offene Denker. Weizsäcker grübelte aber auch wie Böhme über das Böse nach und bekannte: „Schuld ist Mangel an Liebe.“ Der urwüchsig schreibende Schumacher war für Schellings Freund Hegel zwar ein sprachlicher „Barbar“, aber dennoch feierte er ihn in seinen Vorlesungen als den ersten deutschen Philosophen. Der Logiker meinte, dass die Idee vom „Ursprung des Bösen in Gott und aus Gott“ die „höchste Tiefe der Gedanken des Jacob Böhme“ sei. Haas brachte im feierlichen Saal zu Dresden ein weiteres Beispiel dafür, das auch Hegel begeistert haben dürfte. Der Redner las aus Böhmes Hauptwerk „Aurora oder Morgenröte im Aufgang“ (1612) eine Passage zur Phonetik des Wortes „Tag“ vor. An dieser Stelle nahm Böhme bei der Auslegung der Schöpfungsgeschichte unser Sprechen eines einzelnen Wortes unter die Lupe. Er machte auf die kraftvolle Mitwirkung von Zunge und Gaumen sowie Rachen-, Mund- und Nasenraum bei der Lauterzeugung aufmerksam. Indem der Görlitzer über den „Freudensprung aus dem Maul“ beim Formen eines Wortes schrieb, bewies er sich als ein Denker der Negativität. Im Original liest sich das so: „so schleust die Zunge das Maul auff / und will fuerm worte rauß / und thut gleich einen freuden-sprung zum Maule rauß“, wie er markig formulierte. Böhme schrieb vom „gestalt / formiren“ und schilderte im Kontext der Bildung des Wortes „TAG“ den Umschlag des Noch-Nicht in ein Etwas neuer Qualität und schickte auf diese Weise originelle Gedanken zur Entstehung von Mustern in die Welt. Mit dem Fokus auf unser mündliches Sprechen konnte der Denker der Spätrenaissance aufzeigen, wie aus Teilen ein Ganzes entsteht und wie in den verschiedenen Schichten des Wirklichen Genesis oder Gestaltbildung oder Sinnstiftung vonstatten gehen. Wie die anderen Gäste lauschte auch ich gebannt dem Vortrag von Haas im Residenzschloss und hatte dennoch die Leute auf dem Floß von Jackisch vor Augen. Abwegig war das nicht, denn Böhme schrieb darüber, wie Gott „das begreiffliche Wasser von dem unbegreiflichen“ Wasser auf Erden geschieden hat, und er schrieb auch über die Sintflut. Selbstverständlich befassten sich die Zeitgenossen von Böhme - wie der niederländische Maler Roelant Savery – in der Kunst mit dem biblischen Thema der Arche Noah. Beim Blick auf das Floß ereignete sich auch bei mir das Erlebnis des Perspektiv- und Gestaltwechsels: Ein eben noch sinnloser Gestrüpphaufen verwandelte sich durch die Wahrnehmung hindurch hier in einen Menschenleib oder dort in einen Menschenkopf. Ich ertappte mich, wie ein bis eben als gestaltlos scheinendes Gebilde mir plötzlich als Sinnbild von menschlichem Dasein erschien, obwohl sich die Gruppenskulptur nicht um den Bruchteil eines Millimeters verschoben hatte.

3. Tödliches Mittelmeer

Die größten Abenteuer passieren im Kopf. Für meine Frau und mich war der Tag in Dresden ein glückliches Ereignis. So redeten wir am Tag darauf über die Erlebnisse in Vortrag und Ausstellung. Unvermeidlich die Frage: Wo steckt heute der Teufel, mit dem Böhme stritt? Wo lauert heute das Böse, dem sich Böhme in seiner Zeit stellte? Ist der Grat zwischen Gut und Böse in unser aller Tun vielleicht schmaler als wir denken? Haas hatte gleich zu Beginn des Vortrages mit dem Königreich „Lucifers“ eine Perspektive gewählt, der sich weder Schelling in seiner Freiheitsschrift (1809) entzog noch wir inmitten der Krise der westlichen Demokratie entziehen können. Freiheit ist immer die Möglichkeit zum Guten, aber auch zum Bösen. Angestoßen durch den Vorschlag von Emmanuel Macron vom 26. September 2017 für eine europäische Asylbehörde meinte meine Frau: Das „Floß“ in der Ostrale sollte nicht, wie es Usus ist, mit dem Ende der Ausstellung abgerissen werden. Diese Arbeit müsste in die Eingangshalle einer derartigen EU-Behörde gestellt werden, die mit dem Vorschlag des französischen Präsidenten angedacht wird. - Warum sollen wir Derartiges nicht träumen? Warum sollte uns die die „tödlichste Grenze weltweit“ - das Mittelmeer – kalt lassen? Auch wenn die Skulptur keine Karriere machen sollte, ist die Menschengruppe, die Jackisch im Jahr 2017 erarbeitet hat, über den Tag hinaus ein Funke der figürlichen Kunst. Den Bildhauer selber hat es entzündet. Er begann, weitere Flöße zu schaffen. Jedoch kleiner und aus Stein. Wenn in Dresden eine Menschengruppe wie das „Floß“ entstanden ist, möchte ich das wie ein Wunder feiern. Nur begreife ich nicht, wie Kunst das macht, was sie mit mir macht. Die besondere Wucht des Floßes könnte aber darauf beruhen, dass sich beim Verweilen bei den Menschen, die unmittelbar den Urkräften der Erde und des Meeres ausgeliefert sind, im eigenen Empfinden fremdes Schicksal in eigenes Schicksal verwandelt. Ich vermute, da er die „gantze Schoepfung“ samt „Teufel und Menschen“ vor Augen hatte und uns ferner als „Staub und Erden-Mensch“ ansprach, wäre ein Erleuchteter wie Böhme gern zur Ostrale 17 gekommen. Dem Schuster aus Görlitz hätte sicher imponiert, wie Bildhauer Jackisch mit den eigenen Händen die Kräfte von Natur- und Menschensein in einer schicksalhaften Gruppe zum Vorschein gebracht hat.

4. Jacob Böhmes Kosmos

So man aber wil von Gott reden
was GOtt sey
so muß man fleißig erwegen die craeffte in der Natur
darzu die gantze Schoepfung
Himmel und Erden
so wol sternen und elementa, und die creaturen
so auß denselben seind herkommen
so wol auch die heiligen Engel
Teufel und Menschen
auch Himmel und Hoelle.

Literatur von und zu Jacob Böhme

Jacob Böhme. Werke. Morgen-Roete im Aufgangk. De Signatura Rerum. Hrsg. von Ferdinand van Ingen. Frankfurt am Main 2009.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Leipzig 1982. S. 164 – 188.

Alles in Allem. Die Gedankenwelt des mystischen Philosophen Jacob Böhme – Denken Kontext Wirkung. Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Claudia Brink, Lucinda Martin. Dresden 2017.

Grund und Ungrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme – Aufsatzband. Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Claudia Brink, Lucinda Martin. Dresden 2017.

Die Naturmystik in der Kunst der Spätrenaissance. Böhme im Kontext. Kurator Bruno Haas. Begleitheft. Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2017.

02. Oktober 2017

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Bildquelle: Ostrale 2013 Eingang Von Derbrauni - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27...

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