Als er 1946 nach einem bewegten politischen Vorleben der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) beitrat, soll er zum damaligen Parteivorsitzenden Kurt Schumacher gesagt haben: „Wenn ich für den Bundestag kandidiere, wird man mir die Haut bei lebendigem Leib abziehen." Schumacher soll ihm geantwortet haben, das werde er schon aushalten. Die Haut blieb ihm und Schumacher behielt Recht.
Der am 11. Juli 1906 in Dresden als Sohn eines Schuhmachers geborene Herbert Wehner machte in der Bundesrepublik Deutschland eine beachtliche Karriere. Er wurde Stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD (1958-1973), Minister für Gesamtdeutsche Fragen (1966-1969) und Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Deutschen Bundestag (1969-1983). Er war es, der maßgeblich zur Durchsetzung des Godesberger Programms der SPD beitrug. Mit der in diesem 1959 beschlossenen Programm vollzogenen offiziellen Abkehr vom Marxismus wurde die SPD erstmals zur Volkspartei und von vielen, die sie bis dahin abgelehnt hatten, als regierungsfähig anerkannt. Herbert Wehner war es auch, der zielstrebig eine Große Koalition mit der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDU) einfädelte, die 1966 schließlich zum Tragen kam. Ebenso war er es, der die Regierungsübernahme Willy Brandts (SPD) im Jahre 1969 in Koalition mit der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP) und damit die Grundlage für eine neue deutsche Ostpolitik vorbereitete. Als Strategen würde ich ihn dennoch nicht bezeichnen, eher als großen Taktiker.
Wehners Familie war arm, die Mutter musste durch Näharbeiten, der Sohn durch Gelegenheitsarbeiten zum Familienunterhalt beitragen. Nur dank eines Stipendiums konnte der intelligente Junge die mittlere Reife und eine kaufmännische Lehre abschließen.
Mit 17 Jahren begann er, sich politisch zu engagieren, wurde zunächst Mitglied in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und dann in einer von Erich Mühsam (1878-1934) geführten linksautonomen Bewegung. 1927 trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei und avancierte dort zum hauptamtlichen Funktionär. Er engagierte sich im In- und Ausland im Widerstand gegen die Naziherrschaft und wurde 1937 als Referent für deutsche Angelegenheiten ins Sekretariat der Kommunistischen Internationale (Komintern) nach Moskau berufen. Dort geriet er in die Knochenmühle als „Säuberungen" bezeichneten Verfolgungsjagden des sowjetischen Diktators Josef Stalin (1878-1953).
Wehner wohnte im berüchtigten Hotel „Lux", in dem viele Kominternmitarbeiter un-tergebracht waren und fast Nacht für Nacht Stalins Schergen erschienen und Missliebige zu Verhör, Folter und Hinrichtung abführten. Wehner überlebte und geriet dreifach unter Verdacht. Stalin und seine Häscher misstrauten grundsätzlich jedem, die deutschen Kommunisten vermuteten, dass er eigene Genossen verraten und andere unterstellten, dass er, um selbst zu überleben, Kameraden denunziert und ans Messer geliefert habe.
1941 emigrierte Wehner nach Schweden, um von dort aus im Parteiauftrag den Wiederaufbau der Kommunistische Partei in Deutschland vorzubereiten. Er wurde jedoch von den schwedischen Justizbehörden verhaftet und inhaftiert, durfte aber anschließend im Land bleiben.
Die KPD schloss ihn daraufhin wegen Verrats aus der Partei aus. Es wurde ihm unterstellt, dass er seine Verhaftung selbst veranlasst habe, um sich des ihm unangenehmen Auftrags zu entledigen.
So war es auch nicht verwunderlich, dass er von vielen Seiten misstrauisch betrachtet wurde, als er 1946 nach Deutschland zurückkehrte und in der SPD Karriere machte. Deshalb sprach er von der befürchteten „Häutung" und reagierte zugleich empfindsam und aggressiv auf alle gegen ihn gerichteten Vorbehalte.
In der Schule haben wir über den Fall Wehner diskutiert und einer meiner Lehrer fand unsere Zustimmung, als er anmerkte, dass ein Mensch das Recht habe, seine Meinungen zu ändern und man nicht von vornherein unterstellen dürfe, dass dies geheuchelt sei. Ein Mitschüler vertrat die Auffassung, dass man bei Personen des öffentlichen Lebens erwarten könne, dass sie ihren Meinungswechsel eingehend begründeten, ähnlich wie dies der Politikwissenschaftler Wolfgang Leonhard (geb. 1921) oder Tito-Stellvertreter Milovan Djilas (1911-1995) getan hätten.
Das Misstrauen gegen Wehner schien sich zu bestätigen, als der ehemalige Chef des DDR-Geheimdienstes, Markus Wolf, nach der Wende öffentlich behauptete, Wehner sei Perspektivagent der DDR gewesen. Beweise legte er nicht vor, und schon bald musste er seine Behauptung zurücknehmen. Wolf hatte offensichtlich Werbung für ein von ihm veröffentlichtes Buch machen wollen und sich dabei der ihm gewohnten sinistren Methoden bedient. Wehner selbst hat wenig über sich offenbart und selbst in Zeiten, in denen er über beachtliche Macht verfügte, wurde nicht deutlich, ob er eine politische Leitidee verfolgte.
Zweimal habe ich ihn im Deutschen Bundestag in Bonn als Redner erlebt. Er sprach nicht eloquent, aber ungeheuer wirksam. Man hörte ihm zu, er provozierte, wusste die Schwächen seiner Gegner zu nutzen und kräftig in deren Richtung auszuteilen.
Gern kehrte er den Proleten hervor („Sie Herr, Sie") wohl kalkulierend, dass er damit wohlerzogene Bürgersöhne in Rage versetzte. Den Berliner CDU-Abgeordneten Wohlrabe nannte er „Übelkrähe", dessen Fraktionskollegen Todenhöfer „Hodentöter" und den früheren Bundesminister Stoltenberg „Schnullermund". Fäkalausdrücke gingen ihm leicht über die Lippen. Niemand wurde im Bundestag so oft zur Ordnung gerufen wie der Abgeordnete Wehner.
In den 14 Jahren, in denen er Fraktionsvorsitzender der SPD war, wurde er als „Zuchtmeister" oder „Kärrner" bezeichnet und gefürchtet. Als Parteisoldat scheint er sich jedoch nicht verstanden zu haben. Er demontierte Willy Brandt, auf dessen Kanzlerschaft er selbst lange hingearbeitet hatte, und erklärte bei einem Besuch in der Sowjetunion: „Er (Brandt) badet gern lau."
Brandts Nachfolger Helmut Schmidt konnte ebenfalls nicht auf Wehner zählen, als er immer mehr die Unterstützung durch die Linke in der SPD verlor. Die 1986 verstorbene Wahrsagerin „Buchela", die für viele Bonner Politiker „Beichttante" war, prophezeite sogar, dass Wehner aus der SPD austreten werde. Sie bekam Unrecht.
Wehner zog sich 1983 aus gesundheitlichen Gründen aus der Politik zurück. Der schwierige Mann, der gut Mundharmonika spielte, den Dichter Hölderlin verehrte, im Alter Bindungen zur evangelischen Religion aufnahm und in einer Kirche predigte, heiratete 1983 seine Stieftochter Greta Burmeister, die ihm viele Jahre lang eine aufopferungsvolle und zuverlässige Mitarbeiterin gewesen war. Unwidersprochen hieß es, dass der alte Sozialist keine Sozialleistungen für sie erbracht und mit der Heirat das Problem ihrer Altersvorsorge auf die Gemeinschaft der Rentenversicherten verlagert habe.
Greta Wehner, geborene Burmeister, gründete 2003 in Dresden die „Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung", die u. a. durch Bildungs-, Forschungs- und Beratungstätigkeit... „Menschen im Sinne von Herbert Wehner zu selbstständigen politischen Denken befähigen" und dazu betragen soll, das Andenken Wehners in seinem Heimatland Sachsen zu wahren.
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Bildquelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Wehner
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