Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910) war einer der talentiertesten, erfolgreichsten Poeten sowie Schriftsteller um die Jahrhundertwende 1900 und hinterließ ein umfangreiches Werk. Trotz der errungenen Erfolge gab es dennoch in seinem unruhigen Leben nur wenige glückliche Phasen und wenn, dann sehr kurze.
So war schon seine Schulzeit eine äußerst bewegte. Im April 1871 wurde Otto Julius in die 2. Bürgerschule in Leipzig eingeschult. Da seine Eltern eine Gastwirtschaft betrieben, hatten diese keine Zeit sich um ihn angemessen zu kümmern. So gaben sie den Jungen schon bald zu Pflegeeltern nach Dresden, wo er auf eine Privatschule kam. Über diese Zeit äußerte er späterhin in seinen oft autobiografisch gefärbten Romanen nur Gutes. Damit sollte es jedoch ab 1. Oktober 1874 vorbei sein, als ihn seine Eltern nach der 3. Klasse auf eine Realschule mit angeschlossenem Internat gaben.
Über dieses schrieb Otto Julius in seinem mit autobiografischen Bezügen gehaltenen Buch „Stilpe – Ein Roman aus der Froschperspektive“:
„Das Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt verfolgt nicht, wie man aus dem Namen schließen könnte, den Zweck, Freimaurer zu züchten, sondern es erblickt seine Bestimmung darin, aus jungen Knaben, die zu Hause schwer zu glätten sind, wohlpolierte Jünglinge zu machen. Es führt sie aber nicht bis zu jenen Höhen der Bildung, deren Erklimmung die Tore einer Universität öffnet, sondern es begnügt sich mit der bescheideneren, aber zuweilen doch recht mühereichen Aufgabe, seine Pflegebefohlenen nur bis zum Vorhofe des Tempels zu bringen. Dort gibt es ihnen einen leisen Schlag auf die Schulter (so, wie es den jungen Fohlen geschieht, wenn man sie aus dem Stalle lässt) und befiehlt sie der fördernden Gnade dessen, der aus Tertianern nach und nach Primaner und weiterhin im sanften Gleisgange Studenten [...] macht. [...] So ward Willibald Stilpe [das Alter Ego von Otto Julius; natürlich teilweise verfremdet!], als er acht Jahre alt war, in die Zöglingsschar des Freimaurerinstitutes eingereiht. Acht Jahre alt! Mit Bonbons erzogen! Sehr eigensinnig! Sehr zart! Sehr blass! Und nun plötzlich unter dem Glassturz zärtlichster Bemutterung hervorgezogen und einer Knabenstriegelungsanstalt überantwortet, die geradezu spartanischen Erziehungsgrundsätzen huldigte [...]! Oh mein kleiner Willibald, was wirst du erleben müssen! Wehe, die Zeit der Bonbons ist vorüber. Willibald erhielt die Nummer 171, als er ins Institut eintrat. Man schrieb sie ihm mit Tinte in die Wäsche, nähte sie ihm in die Kleider, klebte sie ihm in Stiefel und Mütze; sie stand auf seinem Kleider- und Bücherschrank, sie stand auf seinem Bette, sie stand auf seinem Waschbecken, seinem Stiefelwichsplatz, seinem Seifenkasten; und auch auf dem hölzernen Gewehre stand sie, mit dem er exerzierte. Denn es wurde exerziert in diesem Institute, exerziert unter der Leitung zweier schnauzbärtiger ehemaliger Unteroffiziere, die auch sonst als Knabendresseure einen wichtigen Platz im Erziehungsplane dieser martialischen Anstalt hatten. Man kann daraus erkennen, wie eminent modern die Anlage dieses pädagogischen Institutes war. Sie ging nicht aufs Sentimentale, sondern aufs Robuste aus, sie wollte nicht Romantiker erziehen, sondern Realisten, sie wusch die jungen Häute nicht mit Mandelmilch, sondern mit Bimsteinseife. Wie in den meisten dieser Internate, so lebte auch in ihr das bewährte Staffelprinzip des Lebens, das sich in Kürze so darstellen lässt: Die Unteren sind die Fußschemel der Oberen, und keiner kommt ungetreten in die Höhe. […] Aber, liebe Leute, so ein kleiner Junge von acht Jahren [...] Mein Gott, woher soll der erwachsene Philosophie haben? Er begreift mit nichten die Heilsamkeit des lebensvorbildlichen Getretenwerdens, er versteht ganz und gar nicht, wie wertvoll es ist, sich die junge Haut durch Schinden abhärten zu lassen, ihm fehlt jeder Sinn für das realistisch Tüchtige dieser ganzen Methode. Er fühlt sich einfach kreuzunglücklich. Er denkt an Muttern und weint. So auch Willibald. Was hat der arme kleine Kerl geheult unter seiner Bettdecke! Und wie hat er manchmal mit den Zähnen geknirscht vor Ingrimm, wenn ihn die Oberen drangsalten, ihn, den ‚Battling‘. So wurden nämlich die Kleinen genannt. Die Battlingschaft war bitter wie die Rekrutenzeit. Ach nein: Wohl bitterer noch. Denn, was so eine junge Seele empfindlich ist, das kann sich ein erwachsenes Gehirn manchmal gar nicht mehr vorstellen.“
Vieles machte Otto Julius während seiner Zeit im Freimaurer-Institut mit. Da sich bei seinem Alter Ego Willibald Stilpe jedoch persönlich Erlebtes oder das von Mitschülern, wie auch schriftstellerische Fantasie zum Teil sehr vermengen, soll darauf nicht weiter eingegangen werden. Über Otto Julius – als Person – heißt es im Stilpe: „Die meiste Zeit las er. Wahllos alles, was ihm unter die Hände geriet. Die Gedichte des Lesebuchs kannte er auswendig, und es war sein Triumph, sich darin auf die Probe stellen zu lassen. Sonst fand er seine Lust in einem wühlenden Fabulieren. Während die andern ihre Ballspiele trieben, lief er im Korridor auf und ab und machte sich zum Helden unmöglicher Verhältnisse. [...] Aber, wenn die Obsthökerin kam, so schwanden alle Phantasien, und so lange er was Süßes zwischen den Zähnen hatte, waren ihm seine Heldentaten ganz gleichgültig. In der Schule taugte er wenig und am wenigsten im Rechnen. Aber Deutsch und Religion, das waren seine Gebiete. Er schrieb unorthographischer, als es den Ansprüchen seiner Klasse gemäß war, aber in seinen Aufsätzen war eine gewisse Art von Liebe am Ausdruck.“
Nur selten gab es für die geschundene Knabenseele Zeiten neue Kraft zu schöpfen; das dann allerdings kaum bei seinen Eltern. Denn diese schickten ihn in den großen Ferien immer nach Schlesien zu seinen Onkels aus der Bierbaum-Familie. An freien Sonntagen nahm ihn dagegen sein mütterlicher Onkel Siegert in Dresden auf, wo ihn mehrere Cousinen freudig erwarteten und er für seine schöne Tante Selma, die ihm zudem mit Essenspakete verwöhnte, eine schwärmerische Neigung entwickelte. Nur während kurzer Ferien gestatteten die Eltern, die in ihrer Gaststättenarbeit völlig aufgingen, dass er nach Leipzig kommen durfte. Otto Julius gefiel das Reisen mit der Bahn sehr und in Erinnerung daran schrieb er im Roman Pankrazius Graunzer: „Wie oft hab' ich diese Fahrt als Kind gemacht. Gott, Gott, könnt' ich je wieder so fahren wie damals in der vierten Klasse, mein Ferienköfferchen unter mir. Wie schön war da die Welt!“
Mit jedem Jahr, also dem Aufstieg in die Reihe der Quarks, Strunks und Selektaner – bis er mit zu den Großen, den Tertianern und Obertertianern gehörte – wurde aber auch für Otto Julius das Freimaurer-Institut erträglicher. Im Pankrazius Graunzer schrieb er etwas versöhnter mit der Vergangenheit: „Ich träumte, ich wäre wie vor 30 Jahren hier in Dresden im Freimaurerinstitute. Und ich hatte Sonntags meinen Urlaubszettel und ging in aller Frühe hinaus aus dem Kasten, bummelte die Weißeritz hinunter, dann über die Brücke und in die Stadt hinein. Überall, wo es Pfannkuchen gab, kauft' ich mir einen, mit Pflaumenmus gefüllt, und mit Aprikosen, und einen sogar mit Apfelsinenmarmelade.“
1877 gingen für Otto Julius die nicht leichten Jahre in Dresden zu Ende. Er wechselte auf die Thomasschule, in Leipzig, über und von dort 1882 auf das Gymnasium nach Wurzen, wo er 1885, nach einem dramatischen Schulverweis, doch noch sein Abitur ablegen konnte.
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Textquelle:
Böttcher, Hans-Joachim: Otto Julius Bierbaum - ein Poetenleben voller Ruhm und Tragik, Herne: Gabriele Schäfer Verlag, 2022.