Dresden-Lese

Gehe zu Navigation | Seiteninhalt
Dresden-Lese
Johann Joachim Winckelmanns Wirken auf Schloss Nöthnitz und in Dresden

Winckelmanns Zeit auf Schloss Nöthnitz wird dem Leser hier vor Augen geführt. Er recherchiert zur Reichs-Historie des Grafen Bünau und zum Katalogwerk des Bibliothekars Francke. Während Winckelmann später in Rom Karriere macht, bleibt Francke bis zur Auflösung der bünauschen Bibliothek in Nöthnitz zurück. Über Nöthnitz und seine "Prominenz" berichtet dieser Band.

Johann Michael Francke

Johann Michael Francke

Klaus-Werner Haupt

Ein Leben für die Welt der Bücher

„Ich bin recht wohl aufgenommen worden“, schrieb Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) seinem Schulfreund Konrad Friedrich Uden (1719–1798) kurz nach seiner Ankunft auf Schloss Nöthnitz. ( 1 ) Die beiden Herren, die ihn am 8. September 1748 auf dem nahe Dresden gelegenen Rittergut willkommen hießen, waren der leitende Bibliothekar Francke und dessen Mitarbeiter Dressler. Unter Franckes Anleitung erwarb Winckelmann in den folgenden sechs Jahren grundlegende Fertigkeiten im Umgang mit Quellen und Dokumenten.

( 2 ) Haid, Heinrich Graf von Bünau (1745)
( 2 ) Haid, Heinrich Graf von Bünau (1745)

Der Pfarrerssohn Johann Michael Francke wurde am 6. Januar 1717 in Niederebersbach (Landkreis Meißen) geboren. Nach dem Besuch der Evangelischen Ratsschule (Lateinschule) von Bautzen studierte er ab 1737 bei Johann Christoph Gottsched (1700–1766), Professor für Logik und Metaphysik sowie Rektor der Philosophischen Fakultät, an der Universität Leipzig. Der Empfehlung des „Literaturpapstes“ verdankte Francke 1740 die Anstellung in der Bibliothek des kursächsischen Reichsgrafen Heinrich von Bünau (1697– 1762). Seinem einstigen Kommilitonen Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) blieb nur, ihn um die „schöne Arbeit abseits einer großen Stadt“ zu beneiden. Ganze Privatbibliotheken erwarb der Historiker und Kaiserliche Gesandte Heinrich von Bünau auf Reisen, Neuerscheinungen lieferte der Dresdner Verleger und Hofbuchhändler Georg Conrad Walther (1710–1778). 1745 kehrte Bünau nach Kursachsen zurück, hielt sich jedoch vorwiegend in Dahlen (Landkreis Nordsachsen) auf. Dort errichtete er bis 1751 ein spätbarockes Schloss, das er von dem Künstler Adam Friedrich Oeser (1717-1799) ausmalen ließ.

( 3) Vergoldetes Wappensupralibros der Nöthnitzer Bibliothek des Grafen Heinrich von Bünau (1697-1762)
( 3) Vergoldetes Wappensupralibros der Nöthnitzer Bibliothek des Grafen Heinrich von Bünau (1697-1762)

Für ein Anfangsgehalt von 80 Talern wurde der 23-jährige Johann Michael Francke auf Schloss Nöthnitz mit den Aufgaben eines Verwalters und Bibliothekars betraut. Seine erste Bewährungsprobe war die Überführung der Bünauschen Bibliothek aus der sieben Kilometer entfernten Dresdner Stadtwohnung. Bis 1748 wuchs der Bestand in Nöthnitz auf mehr als 40.000 Bände an, die – fein in Kalbsleder gebunden und mit einem vergoldeten Wappensupralibros versehen – ihren Platz in den Salons eines Seitenflügels fanden. Große Fenster (vorn zum Gutshof, rückseitig zu den Terrassen des Schlossgartens) sorgten für ausreichend Licht zum Arbeiten.

Winckelmann leistete Zuarbeit für Bünaus Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichshistorie (ab 1728). „Meine beiden Kollegen haben mit der Verfertigung des Katalogs zu tun“, ließ er seinen Freund Uden wissen. Franckes neuartiger Catalogus Bibliothecae Bunavianae (ab 1750) ging als Pionierleistung in die Geschichte ein. Neben der Vollständigkeit der Titel, der Ermittlung anonymer und pseudonymer Verfasser, neben Verweisen auf Übersetzungen und Kommentare enthielt der Katalog Beiträge aus Sammelwerken und Periodika sowie bibliografische Nachweise über noch fehlende, zur Erwerbung vorgesehene Titel. ( 2 ) Ähnlich dem Katalog öffentlicher Universitätsbibliotheken standen an erster Stelle theologische Schriften, gefolgt von Büchern über Jurisprudenz, Historie, Literaturgeschichte, Philosophie und Philologie.

1751 ging Heinrich von Bünau als Statthalter des Herzogs Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1699–1772) nach Eisenach. Winckelmann trug er die Mitarbeit an Franckes Katalogwerk auf. Die routinemäßige Arbeit erinnerte sehr an seine freudlose Tätigkeit als Schulmeister, dementsprechend erledigte er die Aufträge. „Sehr flüchtig und fast ohne Accuratesse“, klagte Bünau. ( 3 ) Francke wusste, Winckelmanns Interesse galt den Werken, die er „auslieh“ und nachts in seiner Kammer studierte. Was damals niemand ahnen konnte: Die in „Nebenstunden“ angefertigten Exzerpte legten den Grundstein für die Karriere des Altertumsforschers. Als er aus Karrieregründen zum Katholizismus konvertierte, kühlte sich das Verhältnis zu dem pietistischen Francke merklich ab. Um in Nöthnitz nicht als „verirrtes Schaf“ zu gelten, wechselte Winckelmann im Oktober 1754 nach Dresden. Am 24. September (Justi) 1755 reiste er nach Rom ab.

***

Von dort ließ er den „vertrauten Freund“ wissen, „Rom sei die hohe Schule für alle Welt“. Der Kardinal Domenico Silvio Passionei (1682–1761), sein neuer Arbeitgeber, habe sich über den Catalogus „wie ein Kind gefreuet“. ( 4 ) Im Frühjahr 1756 wünschte Winckelmann, Francke wäre sein Begleiter. Auch in den folgenden Jahren sehnte er sich häufig nach Nöthnitz zurück.1758 hielt sich Winckelmann in Florenz auf. In „eselsmäßiger Arbeit“ katalogisierte er die Gemmensammlung des Barons Philipp von Stosch (1691–1751). Es handele sich um einen catalogue raisonné, erfuhr Francke – allerdings kein trockenes Inventarverzeichnis. 1762 entstand das Sendschreiben Von der Reise eines Gelehrten nach Italien und insbesondere nach Rom an Herrn M. Francken. ( 5 ) Zwei Jahre später verfasste Francke seinerseits das Register zu Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764). In der Vorrede wird er als „würdiger und gelehrter Freund“ und „sehr verdienter Aufseher der berühmten und prächtigen Bünauischen Bibliothek“ vorgestellt, dem Winckelmann verbindlichen Dank schulde: „denn dessen gütiges Herz hätte mir von unserer in langer gemeinschaftlicher Einsamkeit gepflogenen Freundschaft kein schätzbareres Zeugniß geben können.“ ( 6 ) Die ersten 1.200 Exemplare erschienen in der Waltherischen Verlagsbuchhandlung zu Dresden. Am 23. März 1768 kündigte Winckelmann seine „nahe Ankunft zu Nöthnitz“ an, doch zu dem fröhlichen Wiedersehen kam es nicht. Am 8. Juni 1768 wurde er in Triest Opfer eines hinterhältigen Mordes.

***

Während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) hielt Francke auf Schloss Nöthnitz die Stellung. Graf Bünau wirkte inzwischen als Premierminister des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. 1759 wurde er von der regierenden Herzogin Anna Amalia (1739–1807) in den Ruhestand versetzt und verbrachte den Lebensabend auf dem nahe Weimar gelegenen Gut Oßmannstedt, wo er 1762 verstarb.

Francke, der stets uneigennützig um die Bibliotheca Bunaviana bemüht war, holte die 1.639 Bände umfassende Handbibliothek des Verstorbenen nach Nöthnitz. Da die Erben die Bibliothek veräußern wollten, sah auch deren Aufseher einer ungewissen Zukunft entgegen. Familiäre Probleme kamen hinzu. Nach zehnjähriger Ehe verstarb 1765 Franckes Frau. Winckelmann kondolierte am 18. Januar 1766 mit den Worten „Die Ewigkeit muß unser Trost sein, und dieser Glaube muß fest in uns eingewurzelt bleiben“. Nachfolgend erklärte er: „Auch ich bin niemals ein Feind des andern Geschlechts gewesen, wie ich ausgeschrien werde; aber meine Lebensart hat mich von allem Umgange mit demselben entfernet“. ( 7 ) Im gleichen Jahr heiratete Francke erneut.

***

Inzwischen erwarb Prinz Franz Xaver, von 1763 bis 1768 vormundschaftlicher Regent des Kurfürstentum Sachsens, die Bünausche Bibliothek, um sie in die Kurfürstliche Bibliothek einzugliedern. Die Verantwortung für den Transport aller 42.000 Bände in den Dresdner Zwinger trug Johann Michael Francke, der mit 500 Talern Jahresgehalt als Geheimer Secretarius in den Staatsdienst übernommen worden war. Am 11. Oktober 1769 verließ er mit den letzten Büchern das Schloss Nöthnitz.

Francke sah sich nun einer gigantischen Aufgabe gegenüber: Die Bünausche Bibliothek war mit der 62.000 Bände umfassenden Privatbibliothek des Premierministers Heinrich von Brühl (1700–1763) und der Kurfürstlichen Bibliothek zusammenzuführen. Innerhalb von nur drei Jahren gelang es ihm, insgesamt 175.000 Bände nutzergerecht zu ordnen. Die als minderwertig erachteten Bücher musste der nun im Dienste des Kurfürsten Friedrich August III. (1750-1827) stehende Bibliothekar schweren Herzens aussortieren. Ihre Versteigerung erlebte er nicht mehr. Am 19. Juni 1775 verstarb Francke. Sein System zur Katalogisierung von Büchern fand bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Verwendung.

Franckes Werke:

  • Catalogus Bibliothecae Bunavianae (Leipzig 1750–1756)
  • Catalogus librorum, maximam partem exquitissimorum operum, qua in bibliotheca electorali Dresdensi in duplo extiterunt (Dresden 1775–1777)
( 4 ) Buchcover, Winckelmann im Kreise der Gelehrten (2018)
( 4 ) Buchcover, Winckelmann im Kreise der Gelehrten (2018)

1871 erwarb der sächsische Kammerherr Rudolph Carl Freiherr von Finck (1837–1901) Rittergut und Schloss Nöthnitz. Ganz im Sinne seines einstigen Besitzers sollte das Anwesen wieder zu einem Mittelpunkt geistigen Lebens werden. Zur Bibliothek des Freiherrn zählten Winckelmanns Briefe an seine Freunde, 1777/80 herausgegeben von Karl Wilhelm Daßdorf. Um dem einstigen Bibliothekar und dem legendären Nöthnitzer Kreis ein Denkmal zu setzen, entstand Theobald von Oers Historiengemälde „Winckelmann im Kreise der Gelehrten in der Nöthnitzer Bibliothek“ (1874): Im großen Salon hat sich ein fiktiver Kreise von zwölf Gelehrten zusammengefunden, um Winckelmanns Darlegungen zum Apoll vom Belvedere zu folgen. Unter ihnen befindet sich der leitende Bibliothekar Johann Michael Francke.

Die Reihenfolge der Figuren entspricht Gerald Heres´ Publikation Winckelmann in Sachsen (sh. Quelle), der sich auf eine Beischrift auf der Rückseite des Bildes bezog. Doch dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Da Francke bei den “Gelehrten“ des 19. Jahrhunderts in Verdacht geriet, Winckelmann das Leben schwer gemacht zu haben, nimmt man an, nicht Francesco Algarotti, sondern er sitze hinten am Tischchen ...

***

Am 22. Oktober 2020 jährt sich zum einhundertsten Mal der Geburtstag des Freiherrn Viktor von Finck (1920–2010), der 1991 auf das Schloss zurückkehrte und den Verein Studienstätte Schloss Nöthnitz e. V. gründete. Um nach langer Pause die kulturelle und öffentliche Nutzung des Schlosses zu fördern, gründete sich 2019 der Verein Freunde Schloss Nöthnitz e. V.

https://www.freunde-schloss-noethnitz.de/

Die Anregung zu diesem Artikel verdanke ich Herrn Steffen Langusch, Stadtarchivar der Hansestadt Salzwedel (Altmark). Für sachliche Hinweise danke ich Frau Irmela Werner, Vorsitzende des Vereins Freunde Schloss Nöthnitz e. V.

Quellen:

Disselkamp, Martin/Testa, Fausto (Hg.): Winckelmann Handbuch. J. B. Metzler Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017

Haupt, Klaus-Werner: Johann Winckelmann. Begründer der klassischen Archäologie und modernen Kunstwissenschaften. Weimarer Verlagsgesellschaft in der Verlagshaus Römerweg GmbH Wiesbaden. Zweite Auflage 2018

Haupt, Klaus-Werner: Winckelmann im Kreise der Gelehrten. Bertuch Verlag Weimar 2018

Heres, Gerald: Winckelmann in Sachsen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Dresdens und zur Biographie Winckelmanns. Koehler & Amelang Leipzig 1991

Mühlner, Manfred: Johann Michael Francke (2011). In: Sächsische Biografie https://saebi.isgv.de/biografie/Johann_Michael_Francke_(1717-1775)

Schultze, Werner: Ehrwürdig als Mensch, unerreicht als Bibliothekar! Johann Michael Francke – Freund Winckelmanns? In: Festschrift Johannes Jahn zum XXII. November MCMLVII. Hg. Kunsthistorisches Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig. VEB E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1958

Anmerkungen:

( 1 ) Winckelmann, Johann Joachim: Briefe. Hg. Von Walther Rehm, Berlin 1952, Bd. I, S. 87. Brief an Uden vom 14. Sept. 1748

( 2 ) Mühlner, Manfred: Johann Michael Francke (2011). In: Sächsische Biografie https://saebi.isgv.de/biografie/Johann_Michael_Francke_(1717-1775)

( 3 ) Schultze, Werner: Ehrwürdig als Mensch, unerreicht als Bibliothekar! Johann Michael Francke – Freund Winckelmanns? In: Festschrift Johannes Jahn zum XXII. November MCMLVII. Hg Kunsthistorisches Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig. VEB E. A. Seemann Verlag Leipzig 1958, S. 287-292

( 4 ) Winckelmann 1757 an Bünau. Zitiert nach Heres (sh. Quellen), S. 34

( 5 ) Rehm, Walther (Hg.): Johann Joachim Winckelmann. Kleine Schriften – Vorreden – Entwürfe. Walter de Gruyter Berlin New York 2002, S. 190

( 6 ) ebenda, S. 245

( 7 ) Johann Joachim Winckelmann. Kleine Schriften und Briefe. Herausgegeben im Auftrag des Instituts für angewandte Kunst, Berlin. Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar 1960, S. 343. Brief an Francke vom 18. Januar 1766

Abbildungen:

( 1 ) Bildausschnitt (sh. Abb. 4)

( 2 ) Bünau. In: Winckelmann-Museum. Ein Gang durch die Ausstellung. (Hg. ) Max Kunze im Auftrag der Winckelmann-Gesellschaft Stendal. Verlag Franz Philipp Rutzen, Ruhpolding und Mainz 2019 S. 82

( 3 ) Vergoldetes Wappensupralibros der Nöthnitzer Bibliothek des Grafen Heinrich von Bünau (1697-1762), die 1764 von der Kurfürstlichen Bibliothek zu Dresden angekauft wurde © SLUB / Deutsche Fotothek Lizenz: Freier Zugang - Rechte vorbehalten.

( 4 ) Buchcover (sh. Quellen) mit dem Gemälde Theobald von Oers: Winckelmann im Kreise der Gelehrten in der Nöthnitzer Bibliothek © SLUB / Deutsche Fotothek

Unsere Website benutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung unserer Inhalte stimmen Sie der Verwendung zu. Akzeptieren Weitere Informationen